Direkt zum Hauptbereich

Walter Lübcke

Walter Lübcke (* 22. August 1953 in Bad Wildungen; † 2. Juni 2019 in Wolfhagen-Istha) war ein deutscher Politiker. Er gehörte der hessischen CDU an, war Abgeordneter des Hessischen Landtags und von 2009 bis zu seinem Tod Regierungspräsident im Regierungsbezirk Kassel. 2015 wurde er durch sein Engagement für Flüchtlinge und seinen Widerspruch gegen Anhänger der rassistischen Pegida bundesweit bekannt.
Er wurde am 2. Juni 2019 vor seinem Wohnhaus durch einen Kopfschuss ermordet. Die Bundesanwaltschaft stuft den Mord als politisches Attentat mit einem rechtsextremen Hintergrund ein. Unsere Gedenkveranstaltung

Ausbildung, Berufe, Familie

Walter Lübcke absolvierte eine Berufsausbildung zum Bankkaufmann. Es folgten acht Jahre als Zeitsoldat und eine Aufstiegsfortbildung zum Personalfachkaufmann.
Er arbeitete als Assistent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der documenta 7 und studierte Wirtschaftswissenschaften an der Gesamthochschule Kassel mit Schwerpunkt Personalwirtschaft und Arbeitsökonomie.
Parallel zu seiner Tätigkeit als freier Referent für wirtschaftspolitische Themenstellungen erfolgte 1991 die Promotion mit dem Titel Die frühen wirtschaftlichen Planungsversuche in der Sowjetunion: 1924–1928; Sozialismus zwischen Utopie und Pragmatismus. Später arbeitete er als Studienleiter in der beruflichen und politischen Bildung sowie als Direktor der Jugendbildungsstätte Haus Mühlberg in Ohrdruf in Thüringen.
Mit seiner Ehefrau führte er als Landwirt in Wolfhagen-Istha einen Nebenerwerbsbetrieb. 2009 übergab er den Betrieb seinen beiden erwachsenen Söhnen und einem Neffen, die ihn zu einer Firma für Sonnenenergie ausbauten.[1]

Politik und sonstige Ämter

Lübcke war seit 1986 Mitglied der CDU und von 1987 bis 2009 stellvertretender Stadtverbandsvorsitzender in Wolfhagen, von 1994 bis 2009 Kreisvorsitzender der CDU Kassel-Land und von 1997 bis 2009 stellvertretender Bezirksvorsitzender der CDU Kurhessen-Waldeck. Er war von 1989 bis 2009 Mitglied der Stadtverordnetenversammlung Wolfhagen und dort von 1997 bis 2006 als stellvertretender Stadtverordnetenvorsteher aktiv.
Im Hessischen Landtag war er vom 5. April 1999 bis 2009 Abgeordneter. Während er bei der Landtagswahl in Hessen 1999 und 2008 über die Landesliste gewählt wurde, konnte er bei der Landtagswahl in Hessen 2003 den Wahlkreis Kassel-Land I gewinnen. Im Landtag war er verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion. Ab April 2003 war er stellvertretender Vorsitzender im Unterausschuss für Heimatvertriebene, Aussiedler, Flüchtlinge und Wiedergutmachung und Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Verkehr, Kulturpolitischen Ausschuss, Kuratorium der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, Landeskuratorium für Weiterbildung in Hessen sowie im Verwaltungsausschuss beim Staatstheater Kassel.
Bei der Landtagswahl in Hessen 2009 unterlag Lübcke seiner SPD-Mitbewerberin und schied aus dem Landtag aus, da die CDU viele Direktmandate gewonnen hatte. Im Mai 2009 ernannte Innenminister Volker Bouffier ihn als Nachfolger von Lutz Klein zum Regierungspräsidenten in Kassel.[2]
Neben seiner politischen Tätigkeit gehörte Lübcke zum Kuratorium der Landeszentrale für politische Bildung in Wiesbaden, zum Verwaltungsausschuss des Staatstheaters Kassel und zum Beirat der Flughafen Kassel GmbH.
Er förderte früh erneuerbare Energien und Windparks im ländlichen Raum. Seit seiner Ernennung zum Regierungspräsidenten kritisierten politische Gegner mangelnde Neutralität bei der Antragsprüfung für solche Projekte. Umwelt- und Vogelschützer warfen ihm vor, mit von der Industrie bezahlten Gefälligkeitsgutachten Windkraftanlagen im schützenswerten Reinhardswald durchzusetzen. Dagegen betonte Lübcke, die Regionalversammlung Nordhessen habe die Vorrangflächen für Windenergie überparteilich festgelegt.[1]
Als Regierungspräsident setzte sich Lübcke für den Ausbau des Flughafens, von Autobahnen und Schienen ein. Auf Wunsch von Ministerpräsident Volker Bouffier wollte er ein halbes Jahr über seine Altersgrenze hinaus im Amt bleiben. Wenige Tage vor seinem Tod feierte er sein zehnjähriges Dienstjubiläum. Er galt als offen, kommunikativ und bürgernah.[3]

Anfeindungen und Morddrohungen

Am 14. Oktober 2015 informierte Lübcke eine Bürgerversammlung in Lohfelden über eine Erstaufnahmeunterkunft des Landes Hessen im Ort. Laut Augenzeugen und Recherchen hatten sich Anhänger von Kagida, des Pegida-Ablegers in Kassel, für gezielte Störrufe im Saal verteilt und Lübcke mehrmals beschimpft und unterbrochen. Darauf reagierte er:
„Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“[4]
Sofort nach der Veranstaltung verbreiteten Kagida-Anhänger ein kurzes Video mit Lübkes Antwort über Facebook, das die vorangegangenen Beleidigungen wegließ. Bis zum Folgetag erhielt er rund 350 E-Mails, teils mit Morddrohungen, so dass der Gesamtvorgang verabredet wirkte. Er gab alle Mails zur strafrechtlichen Prüfung an die Staatsanwaltschaft weiter und erhielt zeitweise Polizeischutz.[5] Viele der Hassmails und Drohungen kamen laut Lübckes Sprecher von sogenannten Reichsbürgern.[6]
Am Folgetag räumte Lübcke ein, er hätte die Anwesenden über die Beleidigungen zuvor informieren sollen, damit sich nicht alle von seiner Antwort angesprochen fühlen konnten.[5] Er verwies auf die große Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge vor Ort und betonte, seine Aussage sei nur an die Staatsverächter im Publikum gerichtet gewesen. Auf deren häufiges Unterbrechen mit Zwischenrufen wie „Scheiß Staat!“ und „hämische Bemerkungen“ habe er an die christlichen Werte der Verantwortung und Hilfe für Menschen in Not erinnert:
„Ich wollte diese Zwischenrufer darauf hinweisen, dass in diesem Land für jeden und für jede, die diese Werte und die Konsequenzen aus unseren Werten so sehr ablehnen und verachten, die Freiheit besteht, es zu verlassen; im Gegensatz zu solchen Ländern, aus denen Menschen nach Deutschland fliehen, weil sie diese Freiheit dort nicht haben.“[7]
Am selben Tag veröffentlichte der rechtsextreme Blog Politically Incorrect (PI-News) einen Kurztext, der Lübckes Aussage zu dem Satz verfälschte: „Wem das nicht passt, hat das Recht und die Möglichkeit, das Land zu verlassen“. Dazu gab der Autor Lübckes private Wohnadresse und die Telefonnummer seines Büros bekannt.[8] Ein Kommentar rief dazu auf, dort „vorbeizuschauen“.[9] Dann verbreitete PI den Videoausschnitt mit Lübckes Antwort und der Notiz „Abgelegt unter Volksverräter“. Darunter posteten in den Folgewochen hunderte deutsche und nichtdeutsche Kommentatoren Gewaltfantasien und Mordaufrufe. Sie stilisierten Lübcke zum Musterbeispiel deutscher Politiker, die angebliche Geheimpläne der „Globalisten“ und der „Neuen Weltordnung“ zum Austausch der weißen Bewohner durch fanatische Muslime umsetzen wollten. Als Beleg dafür erschien eine Fotografie, die Lübcke beim Besuch der Jüdischen Gemeinde Kassel unter deren Davidstern zeigt.[8] Die rechtsextreme Seite „Nürnberg 2.0 Deutschland – Netzwerk demokratischer Widerstand“ führte Lübcke auf einer Feindesliste: Er habe sich an der „Islamisierung, der Entdemokratisierung, der Umvolkung Deutschlands“ beteiligt.[10]
Bei einer Pegida-Kundgebung am 19. Oktober 2015 in Dresden kommentierte der Redner Akif Pirinçci Lübckes Aussage: Die „Macht“ in Deutschland scheine „die Angst und den Respekt vor dem eigenen Volk so restlos abgelegt zu haben, dass man ihm schulterzuckend die Ausreise empfehlen kann, wenn er [sic!] gefälligst nicht pariert“. Es gebe zwar auch andere Alternativen, aber „die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb“.[11] Für seine Rede wurde Pirinçci später wegen Volksverhetzung verurteilt.[12]
In den Folgejahren verbreiteten verschiedene Personen den rund einminütigen Videoclip von Lübckes Antwort immer wieder im Netz, so im Januar 2016, Februar 2018 und 2019. Stets begleiteten die Videolinks Gewaltaufrufe, Morddrohungen (etwa „Aufhängen diese Schweine“) und öfter auch Bilder von Galgen und Pistolen.[13] Im Februar 2019 griffen zwei rechtsextreme Blogs den Videoausschnitt ohne aktuellen Anlass und Hinweis auf sein Alter wieder auf und verzerrten dabei Lübckes Aussage. Ein bekannter Reichsbürger-Blog verbreitete den Clip sofort weiter. Seitdem wurde Lübcke erneut und verschärft bedroht. - Die AfD-nahe Politikerin Erika Steinbach hatte den Clip im Mai 2017 auf Twitter und Facebook verlinkt und teilte ihn am 18. Februar 2019 erneut mit ihren rund 80.000 Twitter- und 40.000 Facebook-Followern. Auf Twitter kommentierte sie: „Zunächst sollten die Asylkritiker die CDU verlassen, bevor sie ihre Heimat aufgeben!“ Auf Facebook ergänzte sie: „Nichts hat sich nämlich wirklich gebessert…“. Demnach wusste sie, dass sie eine alte Information wieder hervorholte.[14]
Die Mordaufrufe blieben jahrelang auf Facebook stehen (Beispiel: „Den Kerl sollte man gleich an die wand stellen“; „auf der Stelle abknallen, diesen Bastard !“).[15] Die Hassmails liefen nach Angaben aus dem Kasseler Regierungspräsidium aber vor längerer Zeit aus. Kurz vor Lübckes Ermordung habe es keine politisch motivierten Drohungen gegen ihn mehr gegeben.[16]

Tod

Am 2. Juni 2019 um 0:30 Uhr fand ein Angehöriger Lübcke mit einer Schusswunde im Kopf leblos auf der Terrasse seines Wohnhauses liegend. Nach erfolglosen Wiederbelebungsversuchen stellte die Kreisklinik Wolfhagen um 2:35 Uhr Lübckes Tod fest. In seinem Kopf fand man ein Projektil einer Kurzwaffe, das aus kurzer Distanz abgeschossen worden war.[17]

Folgen und Reaktionen

Ermittlungen

Ambox current red.svg Dieser Artikel beschreibt ein aktuelles Ereignis. Die Informationen können sich deshalb rasch ändern.
Weil die Polizei keine Tatwaffe bei Lübcke fand, schloss sie einen Suizid aus und nahm ein Tötungsdelikt an.[1] Das Hessische Landeskriminalamt und das Polizeipräsidium Nordhessen bildeten eine gemeinsame Sonderkommission, die in alle Richtungen ermittelte. Das LKA sah anfangs keinen Zusammenhang früherer Hasskommentare mit dem Mord[17] und wies den Verdacht eines rechtsextremen Tatmotivs als spekulativ zurück.[18] Die Ermittler überprüften dann jedoch, „ob es strafrechtlich relevante Inhalte in den Botschaften gegen Lübcke gibt und ob sie möglicherweise im Zusammenhang mit der Tat stehen.“[19]
Am 1. Juni 2019 um 23:30 Uhr war Lübcke letztmals lebend gesehen worden. Die Ermittler erhielten durch Zeugenaufrufe und einen Bericht in der Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst bis zum 8. Juni rund 160 Hinweise.[20] Darunter war Videomaterial von der Kirmes, die zur Tatzeit auf der Wiese neben Lübckes Anwesen stattgefunden hatte.[21] Laut einer Zeugenaussage entfernten sich in der Tatnacht nach einem Schussgeräusch zwei Autos schnell vom Tatort. Daher vermuten die Ermittler Mittäter.[22]
Am 8. Juni nahm die Polizei den Sanitäter fest, der in der Tatnacht Erste Hilfe geleistet hatte, ließ ihn aber wegen fehlender Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung am Folgetag wieder frei.[20] Am 15. Juni 2019 nahm ein Spezialeinsatzkommando in Kassel einen 45-jährigen Mann fest, weil seine in einer DNA-Analysedatei gespeicherte Probe mit einer DNA-Spur an Lübckes Kleidung übereinstimmte. Er gilt als dringend tatverdächtig und wurde in Untersuchungshaft in die Justizvollzugsanstalt Kassel I gebracht.[23]
Der Tatverdächtige Stephan E. ist laut dem Bundeszentralregister siebenfach vorbestraft, unter anderem wegen Diebstahls, Körperverletzung, Beleidigung und Besitz eines unerlaubten Gegenstands. 1993 griff er eine Asylbewerberunterkunft mit einer selbstgebauten Rohrbombe an; der Anschlag wurde knapp vereitelt. Er erhielt eine sechsjährige Haftstrafe für versuchten Totschlag, eine vorangegangene Messerstecherei und das „versuchte Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion“. Am 1. Mai 2009 griff er mit rund 400 Neonazis Teilnehmer einer DGB-Kundgebung in Dortmund mit Steinen, Holzstangen und Fäusten an. Dafür erhielt er eine siebenmonatige Haftstrafe auf Bewährung. Weitere Strafverfahren wegen Brandstiftung, Totschlag, gefährlicher Körperverletzung und Raub wurden mangels Indizien eingestellt, das letzte 2004.[24] Mehrere seiner Straftaten waren ausländerfeindlich und rassistisch motiviert. Er las die rechtsextreme Zeitschrift Nation und Europa. Nach der Haft blieb er aktives Mitglied der rechtsextremen Szene im Raum Kassel. 2004 demonstrierte er mit dem neonazistischen „Volkstreuen Komitee für gute Ratschläge“ in Gladenbach. Bis mindestens 2004 war er Mitglied der NPD Hessen. Nach Anfragen aus dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss stufte der hessische Verfassungsschutz ihn als „besonders gefährlich“ ein, zählte ihn aber nicht zum Umfeld der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).[25] Laut der antifaschistischen Recherche-Plattform „Exif“ hatte Stephan E. Kontakte zu Stanley R., einem Hauptvertreter des deutschen Ablegers der Naziorganisation Combat 18.[26]
Seit 2010 beging er keine weiteren Straftaten, wurde nicht mehr als rechtsextremer Gefährder eingestuft und weder durch Polizei noch Verfassungsschutz beobachtet. Seine Akte im Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) wurde aus rechtlichen Gründen („Löschmoratorium“) für Ermittlungsbehörden gesperrt, aber nicht gelöscht.[27] Er wohnte in Lohfelden und fiel dort nicht auf. Ob er bei der Bürgerversammlung mit Lübcke 2015 präsent war, ist unbekannt.[28] Im Dezember 2016 gingen von seinem Konto 150 Euro an die AfD, die diese mit Name und Anschrift des Spenders als Wahlkampfspende verbuchte. In welchem Landesverband der Betrag ankam, ist ungeklärt.[25] Nach seiner Festnahme fanden die Ermittler in seinen Handydaten viele Hasskommentare, darunter Drohungen auf YouTube („Entweder diese Regierung dankt in kürze ab oder es wird Tote geben“; „Schluss mit Reden es gibt tausend Gründe zu handeln und nur noch einen 'nichts' zu tun, Feigheit“). Er war Mitglied eines Schützenvereins bei Kassel, hatte dort aber nach Angaben des Vereinsvorsitzenden keinen Zugang zu Schusswaffen. In seiner Wohnung fand die Polizei eine Schreckschusspistole und Unterlagen, wonach ihn eine Erlaubnis zum legalen Waffenbesitz interessierte. Die Tatwaffe wurde bisher nicht gefunden. Wie er an sie gelangt sein könnte und ob er allein oder als Teil eines rechten Netzwerks handelte, wird geprüft. Wegen eines möglichen rechtsterroristischen Tathintergrunds übernahm ab 17. Juni 2019 der Generalbundesanwalt die Ermittlungen.[29]

Internet

In sozialen Medien äußerten viele Rechtsextreme und Rechtspopulisten offen Freude über Lübckes Erschießung, beleidigten und verhöhnten den Getöteten und kündigten weitere Morde an. Das Video mit Lübckes Zitat von 2015 wurde erneut verbreitet und kommentiert.[9] Ein Post lautete: „Der Volksschädling wurde jetzt hingerichtet.“ Journalisten dokumentierten nun auch frühere derartige Kommentare.[8]
Der Kreistagsabgeordnete Mario Reschke (AfD) bezweifelte einen Mord an Lübcke, verglich dessen Tod erst mit dem mutmaßlichen Suizid des FDP-Politikers Jürgen Möllemann (2003) und sprach dann von „gezieltem Rufmord“, nach dem „der Betreffende“ „einfach mal tot“ aufwache. Aufrufe, den Post zu löschen und sein Mandat niederzulegen, wies er zurück.[30] CDU- und Werteunion-Mitglied Max Otte schrieb auf Twitter, der „#Mainstrem“ habe endlich eine „neue NSU-Affäre“, um gegen die „rechte Szene, was immer das ist“, zu hetzen. Nach heftigen Protesten löschte er seinen Tweet.[31]

Politik/Organisationen

Viele hochrangige Politiker verurteilten die Hasskommentare gegen Lübcke. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nannte sie „zynisch, geschmacklos, abscheulich, in jeder Hinsicht widerwärtig“. Er warnte, dass solche verrohte Sprache zu entsprechenden Taten führe.[32]
Bundesjustizministerin Katarina Barley begrüßte, dass der Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernahm. Als „Lehre aus der Mordserie des NSU“ würden bei Straftaten mittlerweile auch „rechtsextremistische Motive sehr viel früher und intensiver geprüft“. Der Staat müsse zivilgesellschaftlich engagierte Personen stärker gegen Einschüchterungen und Bedrohungen schützen, wie sie bei Lübcke stattgefunden hatten.[33]
Bundesinnenminister Horst Seehofer sprach am 18. Juni 2019 von einem „rechtsextremistischen Anschlag auf einen führenden Repräsentanten des Staates“. Dieser sei ein gegen Alle gerichtetes „Alarmsignal“: „Der Rechtsextremismus ist eine erhebliche und ernstzunehmende Gefahr für unsere freie Gesellschaft.“ Angesichts der „Häme für das Opfer und Beifall für den Täter“ beklagte er eine „Verrohung unserer Gesellschaft“.[34]
Der frühere CDU-Generalsekretär Peter Tauber meinte, die AfD habe „mit der Entgrenzung der Sprache den Weg bereitet für die Entgrenzung der Gewalt“ und sei daher „mitschuldig am Tod Walter Lübckes“. Angesichts rechtsextremer Anschläge auf Staatsvertreter forderte er, die Grundrechtsverwirkung nach Artikel 18 GG erstmals anzuwenden und verfassungsfeindliche Beamte zu entlassen, um den Staat und seine Organe im Sinne der „wehrhaften Demokratie“ zu schützen. Auch müsse die CDU gegen Befürworter einer CDU-AfD-Koalition wie Max Otte und Hans-Georg Maaßen eine klare Grenze nach rechts ziehen. Als Vorbild dafür zitierte er den Weimarer Reichskanzler Joseph Wirth: „Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. – Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts!“[35]
Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker und Altenas Bürgermeister Andreas Hollstein hatten 2015 bzw. 2017 rechtsextreme Anschläge knapp überlebt. Hollstein forderte nach dem Mord an Lübcke, „mit der ganzen Härte des Rechtsstaats“ gegen den oder die Täter vorzugehen. Beide erhielten danach eine gleichlautende E-Mail: Darin drohte ein anonymer Rechtsextremist damit, sie und weitere Politiker „hinrichten“ zu lassen. Mit Lübcke sei eine „Phase bevorstehender Säuberungen“ eingeleitet worden. Er verlangte 100 Millionen Euro und schloss mit dem Hitlergruß.[36]
Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland Josef Schuster meinte, dieser Mordfall müsse „alle Demokraten alarmieren“ und zeige „in erschreckender Weise, dass die Gefahren durch rechte Netzwerke, Rechtspopulismus bis hin zum rechten Terror nicht unterschätzt werden dürfen“.[37]

Medien

Nach der Festnahme des rechtsextremen Tatverdächtigen verglichen Journalisten den Mord an Lübcke mit der Mordserie des NSU (2000-2007), dem Attentat auf Henriette Reker (2015) und dem Anschlag auf Andreas Hollstein (2017). Annette Ramelsberger (Süddeutsche Zeitung) sprach von einer „braunen RAF“, die nicht straff organisiert sei, aber zuschlage, wo immer möglich. Sie kritisierte: Wie beim NSU hätten die Ermittler bei Lübcke zuerst Privates „aus der Vergangenheit des Opfers“ gesucht und das naheliegende rechtsextreme Tatmotiv bestritten. Eine laute, menschenverachtende Sympathisantenszene unterstütze solche Taten. Ihr Hass sickere „vom Rand in die Mitte der Gesellschaft“, auch in die Polizei. Sie verwies auf das lange Nichteingreifen der Polizei gegen die Ausschreitungen in Chemnitz 2018 und mit „NSU 2.0“ unterzeichnete Drohbriefe von Polizisten. Anders als die RAF sähen rechtsextreme Gewalttäter Polizisten daher kaum als Gegner, sondern als mögliche Verbündete gegen Linke.[38]
Jagoda Marinić (taz) kritisierte, die Sicherheitsbehörden zeigten anders als bei Überwachung privater Bereiche „kaum Durchsetzungskraft“ bei Rechtsbrüchen in Onlineforen, sie gingen zu zaghaft gegen Persönlichkeitsverletzungen und Gewaltandrohungen im Internet vor. So könne man dort problemlos Einzelzitate aus dem Kontext reißen und verbreiten, um „Feindbilder zu kreieren, gegen die Rechtsradikale sich als Opfer inszenieren“. Aus dem Fall Lübcke folge: „Wer sich künftig in Bürgerforen den hitzigen Debatten vor Ort stellt, wird diese Ereignisse im Hinterkopf haben.“ Daher könne sich die Demokratie eine Toleranz gegenüber dieser Art Hetze nicht mehr leisten.[39]
Für Christian Bangel (Die Zeit) lautet die Botschaft der Tat: „Seid vorsichtig, es geht um euer Leben“. Er fragte, wie diese Einschüchterung von Politikern, Journalistinnen oder zivilgesellschaftlich Engagierten künftig verhindert werden könne. Vorboten der Tat seien die „tausendfache verbale Ehrabschneidung bei Facebook, das geschlossene System des Hasses ebenda“ und der Traum „bis hinein in die AfD“ von einem „Tag der Abrechnung mit jenen, die sich für eine offene Gesellschaft einsetzten“. Das größte Problem sei „das Verniedlichen rassistischer Weltsichten bei gleichzeitiger Betonung angeblicher linker diskursiver Vormacht“. Es müsse „ein Gefühl der Dringlichkeit im Kampf gegen die Rechtsextremen und ihrem rechtspopulistischen Vorfeld eintreten“, das nicht wieder „beim nächsten Skandal im Zusammenhang mit Geflüchteten enden“ dürfe.[40]
Der Autor Toralf Staud forderte die Sicherheitsbehörden auf, sich ein genaueres Bild vom rechten Terrorismus zu machen, statt diesen immer noch analog zum ganz anders organisierten Linksterrorismus zu sehen. Der Mord an Lübcke sei wohl nach dem Konzept Führerloser Widerstand aus den USA verübt worden, wonach unabhängig handelnde Einzeltäter oder Zweiergruppen Terror verbreiten. Um politische Gegner zu verunsichern, fehle wie beim NSU ein Bekennerschreiben.[41]
Mit Bezug auf den „Mob, der in den digitalen Netzwerken wütet und hetzt“, stellt Jasper von Altenbockum (FAZ) fest, dass zum Kapitel Digitalisierung auch der „schleichende Autoritätsverlust des Staates“ und die „Verharmlosung des Schwarmextremismus“ gehörten. Der Täter habe Sympathisanten, die vor Gericht gehörten. Daran, wie viele es sein werden, werde man „sehen, wie einsam die Opfer sind, die im Netz tagtäglich durch den Dreck gezogen werden“.[42]
Selbst die Einzeltäter, so Alexander Fröhlich (Der Tagesspiegel), seien weltweit vernetzt und bastelten sich ihre Ideologien zusammen. Auch die „Neue Rechte, ob Identitäre Bewegung oder auch die AfD, [...] bedient sich derselben Kampfbegriffe wie die Attentäter, sie befeuert genau dieselben Ängste“. Das Entsetzen über ein mögliches weiteres rechtsterroristisches Netzwerk, wirke „seltsam verhalten. Als habe ein Gewöhnen eingesetzt – nicht nur an einst Unsagbares.“[43]
Michael Stifter (Augsburger Allgemeine) forderte, zur Trockenlegung des braunen Sumpfs auch „weggesperrte Informationen aus den NSU-Akten“ zu nutzen. Die „ständige Verschiebung der Grenzen dessen, was man angeblich noch sagen dürfen muss“, führe dazu, dass sich Einzelne radikalisierten. Dasselbe Prinzip kenne man von islamistischen Selbstmordattentätern.[44]
Sascha Lobo (Der Spiegel) sah den Mord als Werk „brauner Schläfer“: Längst gewaltbereite Rechtsextremisten, irreführend „einsame Wölfe“ genannt, erhielten einen Handlungsimpuls aus der rechten Gegenöffentlichkeit im Internet. Typischerweise kündigten sie die Tat wie Stephan E. einige Monate vorher im Netz an, oft während breiterer Hassattacken gegen ihr späteres Opfer. Erika Steinbachs Tweet mit dem undatierten Lübcke-Video könne als „Markierung“ des Opfers gewirkt und den Täter ermutigt haben. Auch eine Rede Björn Höckes von 2018, der die Zeit des Redens für beendet erklärte und zum „Kampfesmut“ gegen die „Vaterlandsverräter“ aufrief, könne den AfD-Spender Stephan E. einem Mordentschluss näher gebracht haben. Das Schweigen von Politik, Behörden und Zivilgesellschaft deuteten solche Täter als Zustimmung dazu, den wahren „Willen des Volkes“ umzusetzen. Daran trage die „verharmlosende Ignoranz bürgerlicher Politiker“ und Medien und die „verbale Gewalttätigkeit gesellschaftlicher Debatten“ eine Mitschuld, etwa Horst Seehofers Aussage von 2011: „Wir werden uns gegen Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme wehren - bis zur letzten Patrone.“ Es sei zu erwägen, ob nicht eine dieser Patronen Lübcke getroffen habe.[45]
Den Umgang mit der Häme nach dem Mord an Lübcke kritisierte Martin Krauß (Jüdische Allgemeine), denn „dass irgendwo ein Staatsanwalt sich dieser ungenierten Wortmeldungen angenommen hätte, war nicht zu vernehmen“. Zugleich nahm er Bezug auf die Forderung einer „erweiterten Toleranz nach rechts“, die Altbundespräsident Joachim Gauck im Juni 2019 in einem Interview erhoben hatte, und fragte: „Ist nicht die fehlende Strafverfolgung derer, die einen Mord bejubeln, bereits «Toleranz nach rechts»?“[46]

Wissenschaft

Das Demokratiezentrum der Philipps-Universität Marburg verwies auf die Zunahme der Gewaltandrohungen seit der Flüchtlingskrise ab 2015 in Deutschland, etwa gegen Bürgermeister und gegen die NSU-Opferanwältin Seda Başay-Yıldız. Darin liege genug Gewaltpotenzial für einen politischen Mord. Bei Lübcke habe „möglicherweise jemand solche Drohungen leider wahrgemacht“.[34]
Der Politikwissenschaftler und Rechtsextremismus-Experte Gideon Botsch sieht ein „enorm hohes“ Potenzial für rechten Terror in Deutschland. Mit dem Abflauen der Aufmerksamkeit für rechte Straßenproteste drohe eine Zunahme terroristischer Akte. Die Feindbilder seien „markiert“ und daran hätten sich auch AfD und Pegida beteiligt.[47]
Für den Soziologen Matthias Quent ist die Tat eine „Zäsur“, da erstmals seit 1945 ein amtierender Politiker von einem mutmaßlichen Rechtsextremisten ermordet worden sei. Die Grenzen zwischen Rechtspopulisten und militanten Gruppen verwischten immer mehr. Auch durch die Erfolge der AfD fühlten sich Täter legitimiert, da sie nach eigener Sicht lediglich die Stimmung in der Bevölkerung in Handeln umsetzten. Von den eher milden Urteilen im NSU-Prozess sei keine abschreckende Wirkung ausgegangen, was der Szene Aufwind verschafft habe.[48]
Für Politikwissenschaftler Hajo Funke tragen Teile der AfD wie Björn Höcke oder Andreas Kalbitz für Lübckes Ermordung eine "klare Mitverantwortung durch die Hetze". Diese dürfe seit den NSU-Morden nicht länger verharmlost und geleugnet werden. Wegen der Gefahr weiterer rechtsterroristischer Anschläge herrsche jetzt „Alarmstufe Rot“.[49] Bei Lübcke habe der hessische Staat „kläglich versagt“, weil Hinweise auf den mutmaßlichen Täter als ernstzunehmenden Gefährder seit 2016 vorlagen. Erika Steinbach sei „mitverantwortlich dafür, dass Lübcke Opfer einer Hetzkampagne geworden ist“, weil ihre Postings vom Februar 2019 ihn zur Zielscheibe rechten Terrors gemacht hätten und sie Mordaufrufe nicht von ihrer Facebookseite gelöscht habe. Steinbach wies den Vorwurf zurück; sie fand ihre Tweets vom Februar 2019 „in keiner Hinsicht problematisch“.[50]

Trauer und Gedenken

Am 13. Juni 2019 fand in der Kasseler Martinskirche ein von tausenden Bürgern besuchter Trauergottesdienst statt. Polizei und Bundeswehr hielten eine Ehrenwache am Sarg, den eine hessische Landesdienstflagge bedeckte. Trauerredner waren Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier, der Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle und andere.[51] In allen Dienststellen des Regierungspräsidiums wurden Kondolenzlisten ausgelegt.[52] Alle hessischen Regierungspräsidien und oberen Landesbehörden hatten Trauerbeflaggung angeordnet.[53]
Am 15. Juni 2019 wurde Lübcke auf dem Friedhof seines Wohnortes Wolfhagen-Istha beigesetzt.

Kommentare

  1. Resümee: Bei der Gedenkveranstaltung zu Walter Lübcke kamen dann noch etwa 10 Personen - darunter einige Provegs | und paar Grüne https://www.facebook.com/ProVegWeiden/ | Viele waren es also nicht, der Rio Raum und besonders die Linke Weiden u. a. nahm unsere Veranstaltung kaum bzw. überhaupt nicht zur Kenntnis. | Im Rio Raum war eine Werbung für unsere Trauerveranstaltung immerhin möglich | Wir machten auf unserer Hauptseite http://antifagruppeweidenneustadt.blogspot.com/ vorher eine Ankündigung für die Veranstaltung. Die Veranstaltung hatte einen (eher) Privaten - Charakter. Weitere Informationen auf - https://dernachbotwelt.blogspot.com/2019/06/gedenkveranstaltung-walter-lubcke.html / http://antifagruppeweidenneustadt.blogspot.com/2019/06/walter-lubcke.html

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Begriff der Arbeit

und deren Kritik an die reale und gegenwärtiege Arbeitswelt.im Rio Raum Weiden am 27. und 29. März als offenes Seminar. Das Wort „Arbeit“ und seine Entstehungsgeschichte, der Ursprung des Wortes  macht das schwere und ausgeliefert sein des Menschen [immer wieder] sichtbar,  -  es soll gemein[indo]germanischen Ursprungs sein  (*arbējiðiz, got. arbaiþs); die Etymologie ist sich da aber nicht sicher; evtl. verwandt mit indoeurop. *orbh- „verwaist“, Waise , „ein zu schwerer körperlicher Tätigkeit verdungenes Kind“ (vgl. Erbe); evtl. auch verwandt mit aslaw. robota („Knechtschaft“, „Sklaverei“, vgl. Roboter). Im Alt- und Mittelhochdeutschen überwiegt die Wortbedeutung „Mühsal“, „Strapaze“, „Not“; redensartlich noch heute Mühe und Arbeit (vgl. Psalm 90, lateinisch labor et dolor). [1] Das französische Wort „travail“ leitet sich von einem frühmittelalterlichen Folterinstrument ab. Das italienische „lavoro“ und englische „labour“ (amerikanisch „labor“) gehen auf das lateinische „labor“

Marina Weisband

  Marina Weisband bei Maybrit Illner Ukraine Spezial Teil 1 Russlands Präsident Putin hat in Europa einen Krieg begonnen. An mehreren Orten in der Ukraine eröffneten russische Truppen das Feuer. Der Westen reagiert mit zusätzlichen Sanktionen, aber wird das Putin stoppen? "Krieg in Europa – Russland greift die Ukraine an" – in "heute spezial"- und "ZDF spezial"-Ausgaben hat das ZDF am Donnerstag, 24. Februar 2022, bereits den ganzen Tag über die kriegerischen Entwicklungen berichtet und ändert auch sein Programm am Abend: Robert Habeck Vizekanzler - Melanie Amann - Marina Weisband - Lars Klingbeil - Erich Vad 📺 Inhaber sämtlicher Urheberrechte: ⇏ ZDF / Maybrit Illner https://www.zdf.de/ Kiew und andere Städte stehen unter heftigem Beschuss der russischen Truppen. Doch die Ukraine hält dagegen und wehrt sich. Das liegt offenbar auch an einer klaren Fehleinschätzung Putins , wie eine deutsch-ukrainische Politikerin im Video aufzeigt. https://www.t-on

XI - Putin – AfD – und die islamistische Despotin Iran bilden mit der Hamas eine antisemitische Allianz. #AgainstPutinAfD #AgainstHamas #SupportIsrael #AgainstAntisemitism

               #SupportIsrael #AgainstPutinAfD #AgainstHamas : XI - Putin – AfD – und die islamistische Despotie Iran bilden mit der Hamas eine antisemitische Allianz. Mit dem Ziel die westliche Hemisphäre mit Destabilisierung, Terror, Gewalt und Krieg zu überziehen, von dieser gewalttätigen Barbarei ist Israel am stärksten betroffen.  Der Krieg gegen die Ukraine ist für den russischen Expansionismus nicht nur ein „Kettenglied“ in der Wiedereroberung des Herrschaftsterritoriums der Sowjetunion (Putin hat den Zusammenbruch der Sowjetunion als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet), sondern es handelt sich für das Putin-Regime auch um einen wesentlichen Schritt hin zur Errichtung der russischen Hegemonie über Europa, um auf dieser Grundlage als gleichrangige Weltmacht gegenüber den USA und dem jetzigen Verbündeten China auftreten zu können. Dieser Krieg ist damit ein offener und direkter Angriff auf den Westen. Der Krieg Putins wird aber am stärksten von