Der polnische Historiker Emanuel Ringelblum wollte die Lebensumstände im Warschauer Getto dokumentieren. (yiddishkayt – Bildarchiv / ) |
In Erinnerung und Gedenken an Emanuel Ringelblum
Vor 75 Jahren: Die Ermordung des polnischen Historikers Emanuel Ringelblum
Es sollte das jüdische Leben und die Gräueltaten der
Nationalsozialisten im Warschauer Getto dokumentieren – das Ringelblum Archiv.
Emanuel Ringelblum und seine Unterstützer sammelten im Geheimen Tausende
Dokumente. Am 7. März 1944 wurde er ermordet. Sein Archiv blieb erhalten.
Von Bernd Ulrich
„Ein stiller, unermüdlicher
Organisator war er, ein kühler Historiker, ein leidenschaftlicher Archivar, ein
erstaunlich beherrschter und zielbewußter Mann.“
So charakterisierte Marcel
Reich-Ranicki in seiner Autobiografie Emanuel Ringelblum. Jenen Mann, der in
dem von den Nazis eingerichteten Warschauer Getto ein geheimes jüdisches Archiv
begründet hat, mit vielen Helfern und trotz aller Widrigkeiten. „Oyneg
Shabbat“, Freude am Shabbat, so der Tarnname der bald „Ringelblum Archiv“
genannten Sammlung.
Der Osteuropahistoriker Samuel Kassow
charakterisiert in seinem Buch „Ringelblums Vermächtnis“ die Motive der
Archivare:
„Zu ihrer Mission gehörte es auch,
künftige Generationen daran zu erinnern, dass sie Individuen gewesen waren.
Verständnis und Erinnerung sollten nicht nur die kollektive Katastrophe
würdigen, sondern auch die individuellen Existenzen, die auszulöschen Absicht
der Deutschen war.“
Leid und Alltag dokumentieren
Neben der Organisation von
Hausgemeinschaften, Suppenküchen oder Kinderheimen zielte Ringelblum darauf ab,
alles zu sammeln, was den grauenhaften Alltag der Juden im Getto und die Verbrechen
ihrer deutschen Mörder zu dokumentieren wusste: Anordnungen, Befehle,
Passierscheine, Arbeitsbescheinigungen, aber auch Untergrundzeitungen,
Einladungen zu Konzerten und Vorträgen, Tagebücher, Briefe, Zeichnungen,
Fotografien und nicht zuletzt zahllose Schreibhefte, in die Ringelblum und
seine Helfer eintrugen, was Gettobewohner beobachtet hatten und hoffen konnten.
Das begann bereits im November 1940, als das Getto von den Deutschen errichtet
wurde. Eine Frau erinnerte sich an den Bau der Gettomauer:
„Von Nazisoldaten bewacht, schichten
jüdische Maurer Ziegel auf Ziegel. Wenn einer nicht schnell genug arbeitet,
wird er von den Aufsehern geschlagen. Das Gespenst des Hungertodes steht uns
allen vor Augen.“
Ein Archiv versteckt in Milchkannen
Emanuel Ringelblum, geboren am 12.
November 1900 in Ostgalizien, Gymnasiallehrer, Publizist, promovierter
Historiker und ein engagierter sozialistisch-zionistischer Politiker. Schon vor
Beginn des deutschen Überfalls auf die Republik Polen am 1. September 1939 hatte
Ringelblum begonnen, ein konspiratives Netz zu gründen, immer in der Absicht,
jüdischen Mitmenschen zu helfen, ihren Widerstand zu wecken und ihre Würde zu
schützen. Deshalb sorgte er auch dafür, dass das Archiv versteckt und
schließlich, verpackt in Metallkästen und Milchkannen, auf dem Gettogelände
vergraben wurde. Fast 25.000 Blatt umfasste die Sammlung schließlich –
jedenfalls konnte soviel Material nach 1945 gesichert werden. Die Nachwelt
sollte einst von der von Demütigungen, Hunger und Deportation bedrohten
Existenz fast einer halben Million Gettobewohner erfahren. Dabei war sich
Wladyslaw Bartoszewski – der 2015 gestorbene polnische Widerstandkämpfer,
Historiker und Politiker – anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung über das
Ringelblum-Archiv sicher:
„Es sind Beweise, diese konkreten
Texte, Schilderungen, waren nicht unbekannt den entsprechenden politischen
Kreisen Großbritanniens im Kriege schon. Dank guter Zusammenarbeit dieser
Gruppe der heldenhaften, mutigen Menschen im Getto.“
Eigene Geschichte schreiben
Tatsächlich berichtete die BBC
erstmals im Juni 1942 über die von „Oyneg Shabbat“ dokumentierte systematische
Ermordung polnischer Juden. Einer von zwei jungen Männern, die das Archiv in
Sicherheit brachten, der damals 19-jährige und kurz darauf im deutschen
Vernichtungslager Treblinka ermordete David Graber, hat der Nachwelt in einem
der Kästen eine Nachricht hinterlassen:
„Nur zu gerne würde ich den
Augenblick erleben, in dem der große Schatz ausgegraben wird und der Welt die
Wahrheit ins Gesicht schreit. Möge dieser Schatz in gute Hände fallen, möge er
bis in bessere Zeiten überdauern, möge er die Welt alarmieren und auf das
aufmerksam machen, was geschehen ist im 20. Jahrhundert.“
Warschau
am 18. September 1946: Das Ringelblum Archiv wurde in der Nowolipki Straße
entdeckt. (picture alliance / pap / Wladyslaw Forbert)
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Das geheime Archiv konnte zu großen
Teilen gerettet werden. Es bildet die Antwort auf die Fragen, die Ringelblum
einst gestellt hatte:
„Wer schreibt unsere Geschichte? Wie
können wir sicherstellen, dass unsere Erlebnisse, unsere Traditionen, unser
Leid durch unsere eigenen Zeugnisse und nicht nur aus der menschenverachtenden
Perspektive der Nazis überliefert werden?“
Emanuel Ringelblum wurde am 7. März
1944 – gemeinsam mit seiner Frau Józia Yehudit und seinem Sohn Uri – von seinen
deutschen Verfolgern festgenommen. Der Vater kam mit Uri in die
Männerabteilung, Yehudit in den Frauentrakt des berüchtigten Pawiak
Gefängnisses in Warschau. Kurz darauf wurde die Familie ermordet.
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